Montag, 23. Oktober 2006
ABT. BLIND HATE – Lieblingsplatten im Verriss
Heute: Radiohead – Hail to the Thief

Mach „Ah“, Kind: Radiohead vervollständigen
ihre Trilogie über Mangelernährung.

In England, der gelegentliche Tourist stutzt jedes Mal erneut,
wird gern fett und einigermaßen ekelig gefrühstückt: Obskure
Würstchen drehen dem Kontinentaleuropäer schon durch ihren
bloßen Geruch den Magen um, mehrere Dutzend Spiegeleier
lappen obszön links und rechts vom Frühstücksteller, und eine
Art Bohnen in Tomatensauce beleidigt das an Goethe, Schiller
und vor allem an frischen Brötchen geschulte Auge.

Was allerdings passiert, wenn junge Angelsachsen gar nicht
frühstücken, ist mindestens ebenso unerfreulich, und Radiohead
liefern dafür seit Jahren den Beweis. Das Leid ist groß, die Stimme
dünn, die Welt muss zwangsläufig dunkel bleiben. Thom Yorke und
seine nur geringfügig weniger bekannten Mitstreiter (deren Namen
freilich einzig Leuten geläufig sind, die durch ihre Markenhornbrille hindurch zum probiotischen Frühstück Mailorderkataloge lesen) erzeugen mit„Hail to the Thief” eine Soundkulisse (früher: „Album“) in 14 Etappen (früher: „Songs“) die sich im Einfallslosen, Unbestimmten, geheuchelt Progressiven verliert, ohne das daraus rechtlich gesehen ein Umtauschrecht beim Plattenhändler erwachsen würde. Bisweilen wird auch der klangexperimentell geschulten und Suizid-interessierten Kernzielgruppe den Verdacht beschleichen, es handele sich lediglich um die rückwärts abgespielten Bänder des letzten großen Radiohead-Albums, „OK Computer“ (England, letztes Jahrhundert). Was übrigens auch sein kann: der Rezensent müsste erst eine Vinyl-Ausgabe besorgen, um das endgültig verifizieren zu können.

Gleich der Auftakt namens „2+2=5“ (früher: „2+2=4“)
erfreut mit einer angetäuschten Brummschleife, an die
sich geschmäcklerisches Gitarrengeschrummel anschließt,
bevor ein ungefrühstückter Yorke (früher: Sänger) offenbar,
so will es der Titel doch wohl nahe legen, den Verlust seiner Fähigkeiten in den Grundrechenarten beklagt. Die braucht er auch nicht: ihm dürfte die Gewissheit reichen, dass ihn sein sinnentleertes neurotisches Gequengel zum mehrfachen Millionär gemacht
hat. Jenseits ihrer pekuniären Interessen haben sich Radiohead jedenfalls endgültig aus dem einst selbst initiierten kunsttheoretischen Diskurs herauskatapultiert, indem sie uns mit „Hail to the Thief“ zum dritten Mal hintereinander dasselbe Album vorlegen. Dieter Bohlen erhielt für denselben Trick weniger Applaus.

2 von 10 (davon 1,5 fürs Cover).
Thomas Stuttgarte, Neumusikalischer Eilbote

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